In Salzgitter bleibt keine Zeit zum Durchatmen
Oberbürgermeister Frank Klingebiel an seinem Schreibtisch im Rathaus. Foto: rwe

In Salzgitter bleibt keine Zeit zum Durchatmen

Salzgitter. ​Aus Hannover fließen mehr als 50 Millionen Euro nach Salzgitter, aber was passiert mit dem Geld und reicht es, damit die Stadt ihre Aufgaben erfüllen kann? Klar ist, Oberbürgermeister Frank Klingebiel hat auch im neuen Jahr jede Menge Arbeit vor der Brust. Was er für 2020 erwartet, hat er hallo-Redakteur Roland Weiterer im Neujahrsgespräch verraten.

hallo: Mit welchen Gefühlen sind Sie in das neue Jahr gestartet?
Klingebiel: Mit einem positiven Gefühl. Dankbar für das letzte Jahr, was durchaus anstrengend war. Wir hatten viele Bälle in der Luft und haben das eigentlich gut geregelt. Ich bin jedenfalls gut gestimmt und voller Tatendrang für das, was alles ansteht.
hallo: An der Verwaltungsspitze gibt es viele Veränderungen, gerade in den bürgernahen Bereichen. Im August traten zwei neue Dezernenten an für Wirtschaft und Kultur beziehungsweise Soziales. Es gibt einen neuen Geschäftsführer bei der Bäder, Sport und Freizeit. Auch der Fachbereichsleiter für Sicherheit und Ordnung wurde verabschiedet. Wie werden sich diese Wechsel für die Menschen bemerkbar machen?
Klingebiel: Die Öffentlichkeit hat schon wahrgenommen, dass sich die Personen ändern. Inhaltlich ist es natürlich schwierig, wenn so lange Erfahrungen und großes Wissen wechseln, damit geht auch ein Erfahrungsschatz verloren. Gleichwohl bietet der Neuanfang auch immer die Chance, bisheriges zu hinterfragen oder anders zu machen. Mein erster Eindruck nach fünf Monaten ist aber, dass beide neuen Dezernenten gut angekommen sind. Sie bringen auch jede Menge Berufserfahrung mit, das hilft dabei in einem Unternehmen anzukommen, das in Bewegung ist. Sowohl Dr. Dirk Härdrich aus dem Landesjugendamt als auch Jan Bohling als früherer Bürgermeister und Samtgemeindebürgermeister sind hoch kompetent. Gleichwohl vermisse ich die bisherigen Kollegen, das waren eingespielte Teams in den 13 Jahren, die ich jetzt hier bin. Man verbringt oft zehn bis zwölf Stunden am Tag im Büro, das schweißt zusammen. Das muss sich jetzt natürlich alles wieder finden. Bei dem Bürger vollzieht sich der Übergang reibungslos, außer dass es natürlich neue Gesichter gibt.
hallo: Was passiert denn mit der Stelle des bisherigen Fachbereichsleiters Sicherheit und Ordnung, Wolfram Skorczyk, der zum Jahreswechsel verabschiedet wurde?
Klingebiel: Der Fachbereich wurde aufgelöst. Die Fachdienste und Referate wurden in andere Fachbereiche und Dezernate verlagert. Die Fachdienste „Feuerwehr“ und „ BürgerService und Ordnung“ gehen zu Kämmerer Eric Neiseke, um Schacht Konrad kümmert sich Fachbereichsleiterin Simone Kessner, und Kommunalverfassung und IT übernimmt der neue Dezernent Jan Bohling, der zugleich Geschäftsführer der WIS ist.
hallo: Das Land hilft der Stadt mit beträchtlichen Summer, unter anderem fließen 50 Millionen Euro nach Salzgitter. Wofür ist das Geld bestimmt?
Klingebiel: Wir haben eine Einigung mit dem Ministerpräsidenten über ein Drei-Säulen-Modell, das der Rat im November beschlossen hat. Im Oberbegriff dient es dem Strukturwandel, dem sich die Stadt stellen muss. Es geht um Bildung und soziale Infrastruktur, wir brauchen neue Kindergärten und Krippen, weil viele Menschen zu uns gezogen sind. Allein 6.000 Flüchtlinge, aber es wichtig zu wissen, dass das Geld nicht für sie, sondern für die Stadtgesellschaft ausgegeben wird. Jeder soll einen Platz im Kindergarten oder der Krippe bekommen, in den Schulen sollen ausreichend Räume, Lehrer und Betreuungskräfte zur Verfügung stehen. Die zweite Säule sind die privaten Mietwohnungskomplexe, die wir in vier oder fünf Bereichen haben und die wir kaufen wollen. Es handelt sich um gut 3.000 Billigwohnungen, in die kaum investiert wird und die wir in Zugriff bekommen möchten. Wir wollen eine gesunde Mischung in den Vierteln. Dritter Schwerpunkt ist der Transformationsprozess in der Wirtschaft. ES geht um die Umstellung auf klimaneutrale Antriebs- und Produktionstechnologie. Ob Salzgitter AG, VW oder andere. Sie haben große Umstellungsprozesse zu bewältigen, müssen um 180 Grad einmal den Hebel umlegen in einer sehr kurzen Zeit. Insgesamt gesehen sind die Herausforderungen für Salzgitter deutschlandweit wohl einmalig. Die 50 Millionen Euro sind jedenfalls kein Geschenk, die mussten Landtagsabgeordneter Stefan Klein und ich uns in Hannover lange hart erarbeiten. Der eigentliche Finanzbedarf beläuft sich auf 160 Millionen Euro, das relativiert auch vieles.
hallo: Wie kann die Stadt den Unternehmen denn bei den Prozessen helfen?
Klingebiel: Das Geld dient nicht dazu, bei den Konzernen die Umstellung zu bezahlen, sondern die Wasserstoff-Technolgie wie in einem Showroom darzustellen. Es geht darum, die Wissenschaft den Bürgern vorzustellen und ihnen zu zeigen, wie sich die Technik nutzen lässt. Wasserstoff für die Produktion oder als Antrieb zu nutzen, ist völlig neu. Da muss erprobt und angewendet werden Die sieben Millionen Euro sollen nicht als Anschubfinanzierung für ein Unternehmen dienen, sondern um den Menschen die Realisierbarkeit der Wasserstoff-Technologie zu zeigen. Erfreulicherweise befinden wir uns mit allen fünf großen Unternehmen in einer Arbeitsgruppe, um gemeinsam diesen Strukturprozess in der Stadt hinzubekommen. Es geht um Wasserstoffproduktion, Wasserstoff-Tankstellen oder um grünen Strom. Wir führen das Knowhow aus den Firmen, dem Fraunhofer Institut und der TU Braunschweig zusammen mit dem Ziel, Salzgitter zu dem Wasserstoffzentrum in Niedersachsen zu machen.
hallo: Für welchen Zeitpunkt erwarten Sie eine Entscheidungsreife beim Land?
Klingebiel: Das wird meines Erachtens im ersten Halbjahr 2020 von der Landesregierung entschieden. Es gibt auch andere Standorte, die sich um so ein Wasserstoff-Zentrum bemühen. Wir haben im Wettbewerb aber gute Karten, weil wir fünf große Unternehmen haben, die unabhängig von der Politik diese Umstellung meistern müssen und dabei auch schon sehr weit sind. Da macht es Sinn, dass das damit verbundene Fördergeld in Salzgitter landet und am Ende auch Beschäftigung sichert. Denn der Transformationsprozess trägt dazu bei, Betriebe und Arbeitsplätze zu erhalten. An einem Hotspot werden sich zudem andere Betriebe ansiedeln, deshalb ist es wichtig, Keimzelle zu sein.
hallo: Gibt es schon einen Ort oder Platz für diesen Wasserstoff-Showroom? der Stadt?
Klingebiel: Den gibt es noch nicht. Wir sind als Stadt zusammen mit den Landtagsabgeordneten, dem Landesbeauftragten, den großen Unternehmen, dem Fraunhofer Institut und der TU Braunschweig dabei, ein langfristig förderfähiges Konzept zu erarbeiten, das wir dann dem Land vorstellen wollen.
hallo: Sie sind Vizepräsident im Niedersächsischen Städtetag. Gibt es auch Kollegen, die etwas neidisch auf Salzgitter schauen und auf die Förderhilfe des Landes, welche Beobachtungen haben Sie da gemacht?
Klingebiel: In meinem Verband ist das Verständnis größer als im Landkreistag oder Städte- und Gemeindebund. Da kann ich unsere multiple Problemlage, so das Wort im entsprechenden Landesgesetz, viel besser transportieren. Die Förderung wurde uns aber nicht geschenkt. Unsere Argumente haben die Regierung und den Landtag überzeugt. Als die Mittel zur Entschuldung verteilt wurden, gab es eine Kappungsgrenze, unter der Salzgitter lag. Nun ist diese abgeräumt, jetzt sind wir dran.
hallo: Mit der Finanzhilfe soll auch viel gebaut werden. Wie kommt die Stadt angesichts des Booms in der Baubranche mit den vielen Projekten klar?

Klingebiel: Das ist eine der größten Herausforderungen, die erkämpften Mittel auch auf die Straße zu bringen. Wir haben keine Zeit zum Durchatmen und müssen die Probleme angehen in einer Zeit, in der die Bauwirtschaft extrem ausgebucht ist. Wir schieben ein Investitionsprogramm vor uns her mit Schulsanierungen und Kita-Bauten. Der Fachkräftemangel hat auch den öffentlichen Dienst erreicht, einige Stellen sind unbesetzt. Da müssen Rat und Verwaltung an einem Strang ziehen, sonst werden wir es nicht schaffen, drei Kindergärten und zwei Schulen komplett neu zu errichten. Wir müssen von der Stange bauen, aber in guter Qualität. Individuelle Lösungen wie bisher sind nicht mehr möglich, wir brauchen Investoren und Generalunternehmer, die nach Vorgaben tätig werden. Wir können das mit unserem Personal nicht in der erforderlichen Zeit schaffen. Und was wird uns nicht nur 2020 beschäftigen.

hallo: Die OB-Wahl und die Kommunalwahl stehen 2021 an. Welche Auswirkungen könnte diese auf das Miteinander im Rat 2020 haben?
Klingebiel: Wir haben im April 2019 den Knoten durchschlagen und die 50 Millionen Euro nach Salzgitter geholt. Seit dem ist klar, wenn wir in Salzgitter eine Sonderrolle haben, dann kann man sich in Hannover und auch hier vor Ort keinen Streit leisten, sonst kriegen wir das nicht hin. Die Diskussionskultur und die Zusammenarbeit richten sich viel offensichtlicher an der Lösung aus. Alle ziehen an einem Strang, das ist an den einstimmigen Beschlüssen zu den richtungsweisenden Projekten zu sehen. Das macht mich zuversichtlich für 2020, dass die bevorstehende Kommunalwahl nicht dazu führt, dass sich die Parteien mit sich selbst beschäftigen und nicht mit den Herausforderungen. Das wäre gut für die Stadt.